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Karabach-Konflikt

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Hallo zusammen,

heute las ich in der FAZ folgende Sätze und dachte, jetzt hat es auch was mit Fußball zu tun und ich könne das hier unterbringen.
Von der UEFA ist der Pressensprecher des aserbaidschanischen Fußballmeisters gesperrt worden. Er wird mit folgenden Worten zitiert: „Wir müssen alle Armenier töten – Kinder, Frauen, die Alten. Wir müssen sie ohne Ausnahme töten. Ohne Mitleid.“ (aus FAZ-Kommentar vom 8. 11. von Christoph Becker). In Baku soll im Übrigen die EM teilweise gespielt werden.
Da ich häufig in Armenien, aber auch in Aserbaidschan gearbeitet habe und in den letzten Jahren sehr oft in Karabach (die Armenier nennen es Artsakh) war, sah ich mich veranlasst, zu Beginn des Krieges vor einigen Wochen, die ein oder andere Initiative zu starten, insbesondere nach dem Mesut Özil sich zum Völkerrecht geäußert hat. Die UNO hat am Ende der Sowjetunion den völkerrechtlichen Status Karabachs, der 1924 von Stalin und den Sowjets festgezimmert wurde, in dem Karabach der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeteilt wurde, einfach übernommen. Schon 1924 wurde nicht berücksichtigt, dass in Karabach über 90% Armenier lebten, von den armenisch geprägten Kulturstätten ganz zu schweigen. Karabach hat dann Anfang der 90er Jahre auf ein Selbstbestimmungsrecht gepocht, um den völkerrechtswidrigen status quo zu ändern. Die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist ausdrücklich als ein Ziel der Vereinten Nationen anerkannt. Aus dem 1. Artikel, der 1976 in Kraft trat, erlaube ich mir kurz zu zitieren: „ ….Recht aller Völker, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten“….. „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat die Qualität von „zwingendem Recht“ (ius cogens). Es gehört damit zu den höchstrangigen Normen des Völkerrechts.“ (Zitat aus einem juristischen Gutachten zum Selbstbestimmungsrecht Armeniens)
Die Unabhängigkeit hat die Bevölkerung in Karabach in einer Abstimmung Anfang der 90er Jahre mit großer Mehrheit beschlossen. Dass diese Abstimmung so ausfiel, war natürlich der Tatsache geschuldet, dass auch in den 90er Jahren die überwiegende Mehrheit in Karabach Armenier waren. Danach kam es zum Krieg, bei dem Armenien unrechtmäßig aserbaidschanisches Hoheitsgebiet besetzt hat, um die Enklave Karabach durch einen Korridor mit Armenien zu verbinden. Aserbaidschan möchte zu Recht diese Gebiete wieder zurück.    
Der Krieg, der vor einigen Wochen ausbrach, hat aber nicht nur das Ziel, die armenisch widerrechtlich besetzten Gebiete zurückzuerobern, sondern auch den „völkerrechtlichen Status“ von Berg Karabach wieder herzustellen. Da Aserbaidschan die Anwesenheit armenischer Truppen in Karabach bekanntlich als Verletzung seiner territorialen Integrität und dementsprechend als permanente „Provokation“ Armeniens qualifiziert, hält Präsident Aliev militärische Gewalt gegen Karabach von vornherein für eine völkerrechtlich legitimierte Maßnahmen der Verteidigung.
Armenien ist durch seine Demokratiebestrebungen zusehends uninteressanter für das autokratische Russland geworden, weil Putin diese Bestrebungen scheinbar zu weit gehen. Lieber hält sich Putin zurück bzw. fällt durch unterlassene Hilfestellung zu Gunsten des aserbaidschanischen Alleinherrschers und Kleptokraten, Ilham Alijev, auf. Putin stärkt damit – ob bewusst oder unbewusst – die großosmanischen Herrschaftsphantasien der Führer der Brüdervölker Aserbaidschans und der Türkei. Da die Medien derzeit mit Corona und USA-Wahl genug zu tun haben, ist die überwiegende Berichterstattung unserer öffentlich-rechtlichen Anstalten in Bezug auf diesen Krieg - bis auf wenige Ausnahmen – ostentativ „objektiv“ und gleichgültig, Hauptsache „ausgewogen“. Wenn bei uns Untaten passieren, wie etwa der Angriff auf die Synagoge in Halle oder der Mord an den türkisch(stämmig)en Mitbürgern in Hanau, dann beziehen Moderatoren nachvollziehbar und korrekterweise Stellung. Warum ist das für Karabach nicht der Fall? Stattdessen werden Jubelszenen aus Aserbaidschan gezeigt, die die Erfolge bei der „Rückeroberung“ Karabachs darstellen (so geschehen am 8. 11. In den Tagesthemen). Unsere Politiker halten sich auffällig zurück, oder stimmen sogar in die Alijev-Propaganda mit ein, wie die zwei unbedeutenden CSU-Politiker (Karin Strenz und Eduard Lintner), die sich sogar vom Alijev-Regime haben schmieren lassen, um sein Lied zu singen. Aber die Augen sollte man schon aufmachen und dann auch (in unserem Interesse) klar Stellung beziehen. Das dies vor dem Hintergrund der türkischen (hier in der Tat völkerrechtswidrigen) Beteiligung auch einen Konflikt mit der Türkei nach sich ziehen könnte, darf uns trotzdem nicht von einer Stellungnahme abhalten, wie immer diese ausfallen mag. Auch hier zeigt die deutsche Politik wenig Rückgrat: Bitte keine Konflikte mit Herrn Erdogan. Warum eigentlich nicht? Nachweislich hat die Türkei Söldner in Idlib Anfang August für einen Einsatz im Südkaukasus angeworben. Ende September wussten wir warum.
Das reiche Aserbaidschan hat seit den 90er Jahren kontinuierlich aufgerüstet und macht keinen Hehl daraus, wie mit Armenien zu verfahren sei (siehe das Eingangszitat). Die Türkei sieht sich als Brudervolk und kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen, wenn es um einen Genozid am armenischen Volk geht. Durch seine osmanischen Großmachtsphantasien ist Erdogan schon seit langem eine Bedrohung und ein Brandstifter obendrein. Beide (Alijev und Erdogan) behaupten, dass Armenien durch Provokation den neuerlichen Konflikt begonnen hat. Aus welchem Grund? Warum sollte eine Gazelle zwei ausgewachsene Löwen angreifen (der Tiervergleich ergibt sich aus dem Verteidigungsetat der beteiligten Länder).
Kurzum: Die Armenier und auch ich haben Angst, dass dieser Konflikt dazu dient, Karabach, das überwiegend von Armeniern bewohnt ist und das kulturell armenisch geprägt ist, zu säubern. Ich nehme dieses furchtbare Wort, weil wir im Begriff sind zuzuschauen, wie Azerbaidjan und die Türkei den nächsten Genozid vorbereiten. So bitte ich die, die das lesen und eine ähnliche Meinung haben, zu helfen, diese sich anbahnende Katastrophe ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu transportieren. Vielleicht habt Ihr ja im Bekanntenkreis Leute, die einen leichteren Zugang zu Medien und Politik haben.
Beste Grüße
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https://www.monde-diplomatique.de/!5724801

Die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique veröffentlichte an Freitag einen für mich sehr interessanten Hintergrundartikel.
Es bleibt kompliziert.


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